Kann man Blumen wachsen hören?

von Marion L.

Gehetzt jagt er aus dem Haus und rein ins Auto. Schimpfend quält er sich durch den dichten Straßenverkehr. Dann schnell rein in den Parkplatz. Natürlich kommen gerade jetzt einige Fußgänger daher und verhindern, dass er in die letzte freie Parklücke hineinfahren kann. Endlich kann er sein Auto parken. Rasch alles Wichtige zusammenkramen. Aktenkoffer, Schlüssel, Geldbeutel. Hat er alles? Raus aus dem Auto. Parkticket einlösen. Er verkneift sich ein Fluchen über die Wucherpreise. Nun aber rasch an den Bahnsteig.

Ein kurzer Blick auf seine Uhr sagt ihm, dass er wieder Mal viel zu spät dran ist. Der Zug steht bereits am Bahnsteig. Jetzt aber schnell. Vorbei an all den Passanten. Noch schnell das Bahnticket abstempeln lassen und dann über die offene Türe in den Zug.

Endlich.

Erleichtert atmet Manfred aus. Er hat es doch noch geschafft. Er lässt seinen blick über die Plätze schweifen und geht etwas weiter durch den Gang auf der Suche nach einem freien Fensterplatz. Er mag es während der Fahrt am Fenster zu sitzen. Es sind die einzigen Minuten in denen er seinen Geist baumeln lassen kann. In denen er nicht unter Zeitdruck steht, und wo er in Ruhe über die verschiedensten Dinge nachdenken kann. Er entdeckt einen freien Patz in Fahrtrichtung. Dort setzt er sich, stellt seinen Aktenkoffer zwischen seinen Beinen auf den Boden und wartet, dass der Zug endlich abfährt.

Nach all der Eile kommt es ihm nahezu ewig vor, bis der Zug sich dann endlich bewegt. Als hätte er sich gar nicht so sehr beeilen müssen. Der Zug kommt in Bewegung. Manfred starrt nach draußen und sieht all die Menschen, Autos und Häuser an ihm vorbeiziehen. Er ist so müde und erschöpft. Seit Wochen hat er nur Stress. Einen Termin nach dem anderem versucht er abzuarbeiten. Und nun ist er unterwegs zum Nächsten. Er blickt gedankenlos nach draußen. Nimmt nur wage all die Bäume und Sträucher war. Sieht weite Wiesen und Felder und nur langsam beginnt all der Stress von ihm zu fallen.

Die Sonne scheint durch das Fenster auf sein Gesicht. Sie fühlt sich so warm und angenehm an, dass er für einen Moment lang seine Augen schließt. Er spürt die Bewegungen des Zuges, die seinen Körper auf angenehme Weise durchrütteln. Er lässt zu, dass sich sein Geist und sein Körper entspannen. Dass Ruhe in ihm einkehrt. Ruhe, die er so dringend braucht.

Der Zug hält an. Vermutlich, weil er eine Zwischenstation erreicht hat. Manfred möchte seine Augen nicht öffnen, doch als das Rütteln aufhört, und er spürt, dass der Zug stehen geblieben ist, kann er nicht anders, als seine Augen zu öffnen. Als er zum Fenster hinausblickt, wundert er sich, weshalb er statt einer Bahnstation nur eine weite grüne Wiese sehen kann. Er blickt zur anderen Seite des Zuges, doch auch auf dieser Seite sieht er nur eine grüße Wiese und ein paar vereinzelte Bäume.

Verwundert schaut sich Manfred im Zug um und stellt fest, dass der Zug völlig leer ist. Gerade eben waren hier noch viele Menschen gesessen, doch nun ist niemand mehr hier. Er erhebt sich von seinem Platz und geht den Gang entlang. Außer ihm befindet sich niemand mehr im Zug. Er blickt mehrmals zu den Fenstern hinaus, doch er kann keinen Bahnsteig sehen. Keine Menschen, keine Häuser und auch keine Straßen. Nur grüne Wiesen, herrlich blühende Sträucher und ein paar saftig grüne Bäume.

Manfred geht zu einer der Türen und betätigt den Knopf, mit dem sich die großen Türen öffnen lassen. Als die beiden Seitentüren zur Seite gleiten, begegnet ihm ein herrlich frischer Duft von den verschiedensten Blumen und Kräutern. Es ist kein Bahnsteig da. Er überlegt, ob er es wagen kann, den Zug zu verlassen. Niemand sonst außer ihm befindet sich im Zug, weshalb er annimmt, dass die anderen Fahrgäste den Zug vielleicht bereits verlassen haben. Vielleicht haben sie ihn einfach übersehen und ihn auf seinem Platz sitzen lassen? Vielleicht hat der Zug eine Panne, oder jemand hat eine Bombendrohung abgegeben und alle Passagiere wurden evakuiert? Alle außer ihm.

Von diesem Gedanken erschreckt, krabbelt Manfred ziemlich umständlich aus dem Zug. Sein teurer mausgrauer Anzug erleidet dabei ein paar hässliche Rußflecken, weswegen er leise schimpft.

„Hallo", hört er eine kindliche Stimme hinter sich sprechen. Manfred dreht sich um, um zu sehen, wer da ist. Vor ihm steht ein kleines Mädchen mit langen blonden Haaren, dass in wilden Locken kreuz und quer in alle Richtungen fällt. Sie hat nur ein knielanges rotes Kleidchen an. Barfuss steht sie in der Wiese und grinst ihn frech an. Manfred blickt sich suchend nach der Mutter oder dem Vater der Kleinen um, doch außer ihm und dem Kind ist niemand hier. Sie erinnert ihn sehr stark an seine eigene kleine Tochter, die etwa im selben Alter ist.

„Hallo, Kleines. Wo sind denn deine Eltern?" fragt er mit freundlicher Stimme.

„Die sind zuhause."

„Und was machst du dann hier so ganz allein?"

„Ich bin hier, weil ich dir was zeigen will."

„Mir?"

„Ja. Komm mit!"

Das Mädchen wirbelt herum und läuft über die grüne Wiese. Manfred schaut ihr verdutzt nach. Er ist sich nicht sicher, ob er dem Mädchen wirklich folgen soll. Er blickt zurück zum Zug, der verlassen auf den Gleisen steht. Es ist sonst niemand hier. Niemand bis auf das Mädchen, das kichernd über die Wiese läuft und ihm erneut zuruft, dass er ihr folgen soll.

Schließlich folgt er ihr über die Wiese, um zu sehen, was sie ihm zeigen will. Vielleicht wird sie ihn zu den anderen Passagieren führen? Vielleicht kann er, wenn er weit genug vom Zug entfernt ist, jemanden der anderen Fahrgäste irgendwo sehen?

Er folgt dem Mädchen zu einer Anhöhe, auf dessen höchsten Punkt eine große alte Eiche steht. Es ist ein großer alter Baum. Zwei starke Stämme ragen aus dem Boden. Feste Wurzeln graben sich tief in den Boden und führen die Lebensenergie des Baumes bis ganz nach oben in die Äste und Blätter des dichten Baumdaches. Das Mädchen lacht und tanzt um die Eiche herum bis sie auf geschickte Weise an den beiden Stämmen nach oben klettert und sich auf einen querstehenden Ast niederlässt.

Manfred muss schon nach den wenigen Metern, die er bis hier hoch auf die Anhöhe zurückgelegt hat keuchen und sich leicht erschöpft am Baumstamm anlehnen. Als er die Rinde des Baumes unter seiner Hand erfühlen kann, spürt er, wie sich eine innere Ruhe in ihm ausbreitet, als ob der Baum ihm etwas von seiner Lebensenergie abgeben würde.

„Was willst du mir hier zeigen?" fragt er das Mädchen, während er sich suchend nach den anderen Fahrgästen umblickt. Doch auch von der Anhöhe aus kann er außer dem verlassenen Zug nichts erkennen. Alles was er sieht, sind Wiesen, Bäume und Sträucher.

„Siehst du es nicht?" fragt das Mädchen. Sie lässt ihre Beine von dem Ast baumeln, lehnt sich sicher an einem der beiden dicken Stämme und strahlt ihn mit diesen unglaublich blauen Augen an, die Manfred erst jetzt richtig wahrnimmt.

„Nein, ich sehe nichts. Was willst du mir zeigen?" fragt er erneut und schaut sich noch mal genauer um. Das Mädchen krabbelt von dem Ast herab und lässt sich den restlichen Weg auf dem Boden herabfallen. Sie geht zu ihm, und reicht ihm ihre Hand. Verwundert blickt er zu ihr herab. Er versteht nicht, was hier passiert, doch als er in ihr kleines rosiges Gesicht blickt, und ihre strahlend blauen Augen ihn ansehen, fühlt er eine seltsame Wärme in sich aufsteigen. Er nimmt ihre Hand und lässt sich von ihr führen. Sie zieht ihn nur ein paar Schritte unter dem Schatten des Baumes hervor in die Sonne und setzt sich dort in die Wiese. Sie deutet ihm an, dass er sich neben sie setzen soll, und er tut es.

„Siehst du die herrlichen Blumen?" Manfred schaut sich um und betrachtet die blühende Pracht wilder Wiesenblumen. Durch die warmen Sonnenstrahlen erhellt glänzen sie in allen Farben. Strahlend weiße Margeritten, Leuchtend roter Mohn, Sonnengelbe Butterblumen und viele weitere bunte Blumen.

„Kannst du sie wachsen hören?" fragt das Mädchen interessiert. Manfred schaut belustigt zu ihr. Dieselbe Frage hatte seine Tochter ihm auch einmal gestellt und er erinnert sich plötzlich an diesen einen Tag. Es war ein Sommertag, ähnlich wie dieser. Er war zusammen mit seiner Tochter und seiner Frau an einem Badesee. Es war ein schöner Tag. Es ist lange her, dass Manfred mit seiner Familie einen solch schönen Tag erlebt hat, da er in den letzten Wochen kaum Zeit für seine Familie hatte. Und plötzlich fühlt er sich schuldig deswegen. Schuldig deswegen, weil er nur noch so wenig Zeit mit seiner Familie verbringt.

„Hier, schenk ich dir", meint das Mädchen zu ihm. Manfred blickt zu ihr und erkennt, dass sie ihm einen kleinen Zweig reicht, an dem sich eine geschlossene Knospe befindet.

„Danke", sagt Manfred und nimmt den Zweig entgegen.

„Weißt du, warum man sie nicht wachsen hört?" fragt ihn das kleine blonde Mädchen.

„Nein, warum nicht?"

„Weil sie viel zu schnell wachsen. Ehe man es hören kann, sind sie schon groß."

Manfred versteht nicht ganz, wovon das Mädchen spricht und blickt sie verwundert an. Er will nachfragen, doch er hört hinter sich jemanden rufen.

„Hallo, Sie. Wachen Sie auf!"

Manfred blickt verwirrt auf und stellt irritiert fest, dass er wieder im Zug sitzt. Eine alte Dame steht über ihm und blickt ihn besorgt an.

„Alles in Ordnung mit ihnen? Müssen sie nicht aussteigen?"

Manfred schaut aus dem Fenster und erkennt, dass es seine Bahnstation ist, an dem der Zug gerade hält. Hastig springt er auf, greift sich seinen Aktenkoffer und verlässt den Zug, während er der alten Dame noch seinen Dank zuruft.

Wieder in Eile ruft er sich ein Taxi. Ohne weiter an den seltsamen Traum zu denken, der ihm so real vorgekommen war, lässt er sich zu seinem Kunden fahren. Während der Fahrt öffnet Manfred seinen Koffer, um sich auf das Kundengespräch vorzubereiten, als er dort den kleinen Zweig sieht, den er von dem Mädchen aus seinem Traum bekommen hat.

Sprachlos starrt er auf das kleine Stück Holz und greift danach, als wolle er feststellen, ob es wirklich echt sei. Es ist echt und Manfred sieht sich die kleine Knospe genauer an. Er erinnert sich an die Worte, die das Mädchen zu ihm sagte und plötzlich ergeben sie auf seltsame Weise Sinn.

Er weist dem Taxifahrer an, dass er zurück zum Bahnhof fahren soll. Dort angekommen, entschuldigt er sich bei seinem Kunden und fährt zurück nachhause. Er fährt zurück zu seiner Familie, um den Rest des Tages mit ihnen zu verbringen. Es sind die eigenen Kinder, die viel zu schnell heranwachsen, und ehe man sich versieht, sind sie zu groß um ihnen beim Wachsen zu zuhören. Ehe man es bemerkt, wachsen sie heran und interessieren sich nicht mehr dafür, was die Eltern zu erzählen haben. Fragen nicht mehr nach Dingen, wie: „Kann man Blumen wachsen hören?"

Ende

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